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MAGAZIN

Neun Monate in Berlin

Enio Moraes Júnior

Gut in einer Stadt zu leben bedeutet nicht im Paradies zu sein, sondern zu lernen was sie zu bieten hat.

Das neue Leben in Berlin. Viele Freunde fragen mich, wie das Leben hier so ist. „Alles gut! Ich habe viel gelernt”. Dies beschreibt meine letzten neun Monate.  Besonders in meinem Fall, da ich eine Karriere als Professor in Brasilien aufgebaut habe.

Auch ich stelle fest, dass Lernen nicht immer einfach ist, dennoch werde ich es nie aufgeben. Vielleicht mag ich deswegen so sehr die Skulptur Molecule Man von Jonathan Borofsky, welche aus der Spree herausragt.

Aus Brasilien auszuwandern und in den alten Kontinent zu ziehen kann ein sehnlicher Wunsch gewesen sein. Vorsicht ist geboten sowie eine Vorbereitung, vor allem wenn man keine 20 mehr ist. Glücklicherweise habe ich meine Hausaufgaben gemacht und mich finanziell sowie emotional auf die Auswanderung vorbereitet. Keine Ahnung, ob genau in dieser Reihenfolge….

Ich kam nach Deutschlandia (so nenne ich das Land, einfach nur um einen Witz zu machen) weil ich mit einem Deutschen verheiratet bin. Alex ist ein Partner auf welchen ich mich zu jeder Zeit verlassen kann. Jemanden an der Seite zu haben ist sehr wichtig in diesem neuen Lebensabschnitt. An einem Ort, wo eine komplett andere Sprache gesprochen wird, die ich noch nicht fließend beherrsche und dort, wo ein anderer Lebensstil sich herausstellt als in Brasilien.

Als ich hier ankam, merkte ich schnell, dass Deutschland ein sehr bürokratisches Land ist. Die Beantragung des Aufenthaltstitels muss persönlich sowie mit einem Termin erfolgen. Meistens dauert es einige Monate bis man diesen Termin endlich bekommt. Um dies zu überstehen ist es wichtig, einen Menschen an der Seite zu haben, welcher sich ebenfalls wünscht, dass alles klappt.

Außer dem Beschweren über die Bürokratie, hatte ich aber auch viel Glück in anderen Aspekten. Die Freunde von Alex haben mich immer unterstützt. Stellt Euch den deutschen Stereotyp vor, den man sich manchmal vorstellt. Klar, er existiert. Manchmal begegne ich diesem auf der Straße, im Supermarkt oder bei den Behörden. Es kommt dennoch äußerst selten vor. Der größte Teil der Deutschen mit denen ich zu tun habe ist freundlich und sehr hilfsbereit.

 

Deutschsprecher B1

Die Sprache und die Kultur sind zwei Sachen. Die Erfahrung Deutsch zu lernen ist nicht immer schön. Man muss verschiedene Module (Sprachniveaus) absolvieren. Jedes Niveau beansprucht 2 Monate Unterricht. Insgesamt sind es ungefähr 12 Monate, wenn man bei A1 anfängt und bei C2 ankommen möchte.

Da ich angefangen habe Deutsch in Brasilien zu lernen, konnte ich hier direkt das Niveau B1 erreichen (ich nenne es das Fortgeschrittenen Basis Sprachniveau). Hier hat man schon die Fähigkeit sich auf der Straße zu verständigen mit einer einfachen Ausdrucksweise.

Von diesem Zeitpunkt an begannen die Kellner in den Restaurants mit mir Deutsch zu sprechen. Bis dahin also, war wohl mein Deutsch so schlecht, dass sie aufgegeben habe und gleich auf Englisch mit mir gesprochen haben.

Wirklich überraschend ist, dass ich dies schon öfter gelesen habe über das Niveau B1. Dies ergibt wohl für jeden einen anderen Sinn. Aber bekanntlich spricht man in einem, sagen wir, angeheiterten Zustand fast alle Sprachen der Welt.

Ich bin an einem Punkt angelangt, wo der Sprecher und die Kultur sich verbinden möchten. Genau diese Verwirrung sorgt bei mir für eine Erleichterung. In Berlin wird viel Englisch und natürlich auch Deutsch gesprochen. Es gibt aber auch sehr viele Möglichkeiten Spanisch sowie Portugiesisch zu sprechen.

Die letzten Zwei sind nützlich für den Kontakt mit Latinos und Ibero Amerikanern, die ich durch Freunde oder in den Sprachkursen kennengelernt habe. Das Englisch ist da schon die zweitwichtigste Sprache, existierend auf der Straße, gesprochen von den jungen Europäern, den Hipstern. Wie es auch in den anderen größeren Städten auf der Welt verteilt passiert. Berlin ist eine der kosmopolitischsten Städten, welche ich gesehen habe. All diese Sprachen und Nationalitäten vermischen sich in meinem Kopf.

Neukölln und Johannisthal

Stelle dir einen Ort vor, wo viele Türken, Araber und einige Syrier wohnen. Genau das ist Neukölln, der erste Stadtteil in dem ich in Berlin gelebt habe. Die Erfahrung einen Döner um die Ecke zu essen kann zu einem Phänomen werden, wenn der Tourist vor dir seine Bestellung auf Englisch abgibt und du danach deine auf Deutsch mit deinem B1 Niveau abgibst und sich deine Ausdrucksweise dem des Dönermanns gleicht.

Sieben Monate nach der Auswanderung, bin ich umgezogen in einen anderen Stadtteil. Jetzt wohne ich in Johannisthal. Hier lebt die ältere Generation. Dieser Stadtteil liegt im Südosten der Stadt, damals Teil der DDR. Hier lerne ich das Berlin kennen, welches ich bisher nicht kannte. Die Nachbarn begrüßen sich, der Bäcker um die Ecke erwartet ein „Guten Morgen“. Es ist überraschend eine Art Vorstadtgefühl hier zu erleben.

Arbeit und Karriere beginnen endlich. Auch wenn das Lernen sehr produktiv ist, sind die Deutschkurse teuer. Deswegen habe ich ein wenig vergessen Deutsch zu lernen und suche Arbeit. Viele Freunde haben mir empfohlen zu arbeiten weil es der beste Weg ist besser Deutsch zu sprechen. Seit ein oder zwei Monaten arbeite ich in einem Startup als Portugiesisch Lektor.

 

Vermisse ich Familie, Freunde, Kollegen und Schüler? Vermisse ich auch Brasilien und São Paulo? Klar. Immer. Sehr. Ich bin noch Brasilianer, ich liebe noch São Paulo und alle Menschen, die Teil meines Lebens sind.

 

“Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin”. Dieser Satz ist vom Komponisten Franz von Suppé, welcher in den Jahren 1800 lebte. Gut in dieser Stadt zu leben ist nicht darauf zu warten, dass sie ein Paradies wird (es existiert nicht), aber es ist das Risiko und das Lernen, was sie zu lehren hat. Genau dieser Prozess ist eine wunderschöne Herausforderung.

Text und Foto: Enio Moraes Júnior

Übersetzung: Alexander Pribb

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Enio Moraes Júnior

Enio Moraes Júnior ist ein brasilianischer Journalist und Professor. Seit Juli 2017 wohnt er in Berlin. In der Hauptstadt arbeitet als Portugiesisch Lektor und schreibt über Auslander welche die Berliner Straßen bevölkern.

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