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In jeder Tragödie steckt ein Witz: Interview mit Wladimir Kaminer
Foto: Wladimir Kaminer © Thomas Meyer
Er kam vor 20 Jahren aus Moskau nach Berlin und lebte in einem Asylantenheim. Heute ist er einer der beliebtesten Schriftsteller Deutschlands. In seinen köstlich amüsanten Büchern sind Russen das Leitmotiv, aber als Grundlage dient das Leben als Ganzes. Von einem in der Sowjetunion erfundenen Paris über Demonstranten im Hungerstreik, die zusehend dicker werden, bis hin zu einer Fahrradtour nach Sibirien: In jeder Beschreibung steckt treffsicherer Humor, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.
Im Mai ist er bei der Buchmesse in Lissabon anlässlich der Veröffentlichung seines Buches „Die Reise nach Trulala“ auf Portugiesisch („A viagem a Tralalá”, Tinta da China, Übersetzung Helena Araújo), einem Buch über die Unmöglichkeit des Reisens, und um eine Russendisko zu veranstalten – eine Party mit russischer und sowjetischer Musik, die in Berlin bereits legendär ist. Im Interview mit BERLINDA spricht der Autor über Solidarität, Europa und seine Beziehung zu Portugal. Meine Damen und Herren: Wladimir Kaminer.
BERLINDA: Herr Kaminer, Sie haben 18 Bücher geschrieben, die erste Verfilmung eines Ihrer Romans feierte gerade Premiere, Sie sind ständig auf Lesereise, haben eine Familie und legen dazu noch als DJ auf. Wie schaffen Sie das?
WK: Das sind gar nicht so viele Sachen. Im Grunde genommen mache ich immer dasselbe. Ich schreibe in allen meinen Büchern immer dasselbe, lege immer dieselbe Musik in der Russendisko auf, ich habe die ganze Zeit dieselbe Familie, die gleichen Katzen... Die Bücher erzählen ein und dieselbe Geschichte immer weiter. Früher habe ich viel über Kindergärten geschrieben, als meine Kinder in den Kindergarten gingen, später über die Grundschule, jetzt schreibe ich über das Gymnasium... Ich schrieb über den Arbeitsalltag meiner Eltern, jetzt ist mein Vater tot und so habe ich angefangen, über Friedhöfe zu schreiben... Man kann diese Eintönigkeit mit der Eintönigkeit des Wechsels der Jahreszeiten vergleichen. Jedes Jahr passiert immer das gleiche: Zur gleichen Zeit kommt Frühling, dann Sommer, dann Herbst... Die Jahreszeiten sehen aber jedes Jahr ganz unterschiedlich aus und haben dann eine gewisse Einmaligkeit, die sie auch in der Erinnerung so besonders erscheinen lassen.
B: Sie schreiben immer über Ihre eigenen Erfahrungen. Haben Sie manchmal auch Lust, reine Fiktion zu entwickeln, oder ist das Leben die allergrößte Fiktion?
WK: Woraus soll man diese Fiktion entwickeln? Ich glaube nicht an Fiktionen. Ich denke dass alle Menschen - selbst Science-Fiction-Autoren - aus dem gleichen Reservoir schöpfen, aus der gleichen Realität. Und gerade dann, wenn sie Fiktionen schaffen, wird für mich als Leser besonders sichtbar, wo solche Fiktionen ihre Wurzeln haben. Wie der japanische Godzilla zum Beispiel, der ganz klar aus der damaligen Angst vor den Russen entstanden ist und in seinem Drachengesicht tatsächlich sogar etwas Russisches hat.
B: Schreibt man dann immer nur über das, was man erlebt hat?
WK: Oder auch über das, was man nicht erlebt hat, aber gerne erlebt hätte. Viele Autoren schreiben über Reisen, die sie nicht gemacht haben, über Kriege, die sie nicht geführt haben, über Gefühle, die sie nicht besitzen... Aber dahinter steht immer das Leid, etwas verpasst zu haben oder die Lust, etwas zu erleben.
B: Haben Sie keine Angst, dass Ihnen der Stoff Ihrer Bücher eines Tages ausgeht?
WK: Meine Bücher sind aus demselben Stoff gemacht, wie das menschliche Leben. Erst wenn ich nicht mehr bin, wird der Stoff ausgehen. Das ist eben der Anspruch eines Geschichtenerzählers: die Geschichten so spannend und unterhaltsam zu machen, dass die Menschen in einhundert Jahren noch Lust haben, sie zu lesen. Das ist eigentlich ein direkter Weg in die Unsterblichkeit. Alles andere wird nicht bestehen, weder Häuser noch Autos und die Menschen sowieso nicht... Das Einzige, was bleibt, sind die Geschichten darüber. Und so ist die Figur desjenigen, der diese Geschichten weitererzählt, eine sehr wichtige Figur. Vor einer halben Stunde kam meine Tochter zu mir, total gelangweilt. Sie hatte gerade Schulferien und ist selbstverständlich immer spät ins Bett gegangen. Jetzt fängt die Schule wieder an, sie ist völlig unausgeschlafen und muss über den ersten Weltkrieg lernen. Sie fragte mich, ob ich darüber was erzählen kann, denn sie habe keine Lust, im Internet darüber zu lesen. Ich habe angefangen, und nach fünf Minuten hatte sie solche Augen! Das ist eine absolut leidenschaftliche Geschichte, dieser Krieg, der aus dem Nichts kam und solch eine unerwartete Kette von Niederlagen nach sich zog. Die letzte Imperatoren und Kaiser, die sich eigentlich verbrüdern mussten um gegen die modernen gesellschaftlichen Formen wie die parlamentarischen Republik zu kämpfen, ausgerechnet sie sind aufeinander losgegangen und natürlich waren sie alle dann weg vom Fenster.
Der Sinn der Menschen ist, den Anderen zu verstehen
B: Sie sagten einmal „Ich möchte, dass die Leute hier aus meiner Hand etwas über ihre Nachbarn im Osten erfahren“. Ihre Bücher sind mittlerweile in mehrere Sprachen übersetzt worden. Warum ist es wichtig, dass die Welt etwas über die Russen erfährt?
WK: [große Pause] Weil ich denke, dass eine Welt langfristig nur dann bestehen kann, wenn sie aus Werte wie Solidarität und Zusammenhalt setzt. Es ist schon tausendmal in der Menschengeschichte vorgekommen, dass Menschen, die an einem gemeinsamen Projekt beteiligt waren, doch auseinandergingen und sich daraus unzählige Tragödien entwickelten. Der Turm von Babel war eine solche Geschichte. Die Menschen kamen nicht miteinander klar und einigten sich nicht, wie man diesen Turm bauen sollte, jeder zog in seine Richtung davon, aus dieser Auseinandersetzung sind so viele Sprachen entstanden, dass die Menschen sich überhaupt nicht mehr verstehen können. Das ist eigentlich der ganze Sinn der Menschen: den Anderen zu verstehen und den Weg zu finden in diese ursprüngliche Gesellschaft, die sehr solidarisch war.
B: Inwieweit sind Ihre Klischees ein literarisches Mittel, um die Figuren zu charakterisieren, oder inwieweit sind Ihre Figuren tatsächlich Klischees?
WK: Können Sie mir ein Beispiel geben?
B: Die Russen sind in Ihren Büchern Figuren der Extreme – sie lachen zum Beispiel laut und sind meistens sehr ungeschickt...
WK: Das ist aber ein Zufall. Ich glaube nicht, dass die Deutschen leiser lachen oder weniger ungeschickt sind. Tatsächlich habe ich Russen in skurrilen Situationen beschrieben, aber nur weil ich selbst ein Russe bin und ein großer Teil meines Umfeldes aus Russen besteht, die ständig in irgendwelchen skurrilen Situationen stecken. Es ist aber kein bewusstes Jonglieren mit den Klischees. Ich habe letzte Woche eine lustige Geschichte geschrieben, „Der Herr mit dem Hündchen oder das italienische Windspiel“. Das italienische Windspiel ist eine Hunderasse, sozusagen ein prominenter Hund mit langen Beinchen. Ein Freund von mir, ein Cellist, der hier in Berlin Musik studierte, war sehr arm. Er bekam von seiner Mutter, die Hunde für die reichen Leute in Moskau züchtete, statt Geld ein italienisches Windspiel. Er sollte ihn verkaufen und dadurch reich werden. Er konnte ihn aber nicht verkaufen. Dieser Windspiel-Hund durfte nur kleingeschnittenes, gekochtes Kalbsfleisch essen, überhaupt nur Sachen, die wir uns damals aus Geldmangel nicht leisten konnten. Das ist eine verrückte Geschichte. Man kann sagen, das sind Klischees. Ich glaube, ich weiß sogar, warum die Russen häufiger in skurrile Situationen kommen als andere: weil sie in einer neuen Welt sind. Sie leben seit 20 Jahren in einer Welt, von der sie nichts wissen. Sie sind wie Kinder, und Kinder kommen ständig in irgendwelche Bredouillen.
Großartiges Europa
B: Sie haben alle Ihre Bücher von Anfang an auf Deutsch geschrieben. Warum auf Deutsch schreiben und nicht in ihrer Muttersprache?
WK: Weil mich auf Russisch hier keiner verstanden hätte. Ich habe große Angst vor Übersetzungen. Neulich erschrak ich mir mit Übersetzungen meiner Texte ins Russische...
B: Könnten Sie nicht Ihre eigenen Texte auf Russisch schreiben? Dann bräuchten Sie keine Übersetzung. WK: [Pause] Ja, das könnte ich. Ein paar Texte habe ich sogar auf Russisch geschrieben. Bei einer Übersetzung ist es etwas anders. Auf Russisch hätte ich wahrscheinlich ganz anders geschrieben.
B: Sie leben seit 20 Jahren in Deutschland, kommen aus der Sowjetunion und haben jüdische Wurzeln. Welcher kulturellen Tradition fühlen sie sich am meisten verbunden?
WK: Mir gefällt dieses neue Europa. Letzten Samstag kamen so viele Menschen aus verschiedensten Ländern zu uns in die Russendisko - die meisten Sprachen kannte ich überhaupt nicht, es war unglaublich! Diese Vision von einem neu vereinten Europa ist für mich die Fortsetzung des Turmbaus von Babel. Das Politische ist zwar noch nicht richtig geklärt, finanziell stimmt es auch irgendwie nicht wirklich, aber das, was inzwischen auf kultureller Ebene geschehen ist, ist großartig. Berlin war nie eine solche Weltmetropole wie heute. Das ist tatsächlich eine Babylonische Mission, was sie sich hier ausgedacht haben.
„Oft erzähle ich etwas Furchtbares und die Menschen lachen sich schlapp“
B: Ihre Bücher sind sehr humorvoll, dabei sprechen Sie auch heikle Themen an, wie die Wende, Freiheit, das deutsche Schulsystem...
WK: Dabei wird man mit dem Alter nicht lustiger. Ich habe jetzt schon Angst, ob man mich immer noch lesen wird, wenn meine Bücher weniger Humor enthalten. Denn normalerweise nimmt die Tragödie des Lebens zu.
B: Sie können aber sogar traurige Situationen in humorvolle Geschichten verwandeln. Sehen Sie in allen Lebenssituationen sofort den Humor?
WK: Ich weiß, dass in jeder Tragödie einen Witz steckt. Wie in der Geschichte mit dem Hund, dem italienischen Windspiel. Das war eine große Tragödie: Letzen Endes ist dieser Musiker nach Russland zurückgekehrt, er hat seine Ausbildung in Berlin nicht abgeschlossen, weil er nicht für sich sorgen konnte. Und seine Eltern haben ihm anstelle von Geld einen blöden Hund geschickt. Mir passiert es sehr oft, dass ich etwas Ungeheuerliches oder Furchtbares erzähle, und die Menschen sich schlapplachen. Dann denke ich „Mensch, Du hast das nicht erkannt, aber das ist ein Witz! Darüber muss Du eine lustige Geschichte schreiben“. Ich will die Geschichte, die ich angefangen habe, zu Ende schreiben
B: Sie haben einmal gesagt, „Humor muss gefährlich sein“.
WK: Habe ich das gesagt? Das kann ich mir nicht vorstellen.
B: Wie muss dann Humor sein?
WK: Humor macht das Leben erträglicher. Er gibt den Erinnerungen eine anziehende Farbe.
B: Können Sie Ihr Leben klar von Ihren Büchern trennen, oder ist das ein und dasselbe?
WK: Ich würde gerne diese Geschichte, die ich angefangen habe, zu Ende schreiben. Und dann nur noch Sachbücher verfassen, zum Beispiel über die Rolle eines bestimmten Schriftstellers in der Entwicklung der Welt. Aber ich weiß noch nicht, wie ich diesen Bogen so richtig hinbekomme. Ich habe lange darüber nachgedacht, was das eigentlich ist, was ich schreibe. Inzwischen ist mir klar geworden, dass es auch ein Versuch ist, die biblische Geschichte nachzuahmen - wie fast alles Vernünftige, was von Menschen geschrieben wurde. Die ersten Menschen wurden vertrieben und waren somit die ersten Menschen mit Migrationshintergrund, wie man es heute nennen würde. Sie wurden aus dem paradiesischen Garten rausgeschmissen, aus Gründen, die sie wahrscheinlich damals nicht nachvollziehen konnten. Danach haben sie versucht an verschiedenen Stellen und unter verschiedenen Umständen dieses Paradies, das sie als etwas sehr Richtiges in Erinnerung hatten, nachzubauen auf verschiedensten Art und Weise. Und sind dabei jedes Mal grandios gescheitert. Zum Beispiel in Berlin: Die Stadt ist eine riesige Baustelle. Man versucht hier ein Paradies zu bauen und baut dabei ständig eine Hölle. Aber diese Hölle kann sehr unterschiedlich sein. Es kann eine freundliche, warme Hölle sein wie in Berlin, oder es kann eine geschichtsträchtige, kalte Hölle wie ein Kaffeehaus in Wien, wo jeder für sich in einem Sessel und einer Zeitung versinkt. Darüber schreibe ich, das ist meine Geschichte. Am Ende sollen diese Menschen mit Migrationshintergrund in den ursprünglichen Garten zurückfinden – aber ich weiß nicht wie.
B: Könnten Sie sich vorstellen, etwas anders als Schriftsteller zu sein?
WK: Ich denke nicht, dass ich ein Schriftsteller bin. Wenn Sie die Menge meiner Bücher betrachten, dann werden Sie zwangsläufig feststellen, dass ein Schriftsteller etwas anderes ist. Ein Schriftsteller ist ein Copyrighter. Jemand, der einem etwas vormacht - über Fantasiewelten, Drachen und Zauberer - mit dem Anspruch, mehr darüber zu wissen, als die anderen. Es ist keine aufrichtige Angelegenheit, die Schriftstellerei. Ich sehe mich eher als Chronist der Zeit. Ich versuche, etwas sehr Augenblickliches festzuhalten, etwas Flüssiges, das sehr schnell verschwindet. Diese Substanzen, die die Menschen produzieren, verschwinden sehr schnell, in jeder Sekunde wird Gegenwart zu Vergangenheit.
Endstation Portugal
B: Als Sie zum ersten Mal in Portugal waren, kannten Sie sich mit der portugiesischen Kultur nicht besonders aus, und sie bezeichneten die Portugiesen als ein Volk, das ständig über seine Geschichte erzählt. Hat sich Ihr Bild von Portugal mittlerweile geändert?
WK: Ich war mehrmals in Portugal und habe sehr unterschiedliche Menschen und verschiedene Städte kennengelernt. Aber mein erster Eindruck ist unverändert geblieben. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, als wir wie gehetzt durch Europa reisten, um unsere Durst nach dem Reisen zu stillen - auf der Suche nach dem Traum, den wir in der Sowjetunion hatten, als wir noch nicht reisen durften. Wir haben uns damals eine sehr schöne Welt zusammengeträumt, keine reale Welt konnte diesem Traum standhalten. So fuhren wir, und fanden nicht mal annähernd den Schatten dieses Traumes. Am Ende der Reise kamen wir an eine Promenade, da war die Erde schon ziemlich schräg, und weiter unten war das Meer. Da wurde uns klar, dass es das Ende ist. Das ist das Ende von Europa, weiter geht es nicht. Unsere Träumerei fand ein ganz klares Ende an dieser portugiesischen Promenade. Das war in Lissabon.
B: Haben Sie inzwischen schon Saramago gelesen?
WK: Ja, ich habe Die Stadt der Blinden gelesen. Furchtbar!
B: Sie werden in Lissabon eine Russendisko veranstalten. Welche Erfahrungen haben Sie bisher mit der Russendisko im Ausland gemacht?
WK: Ich mache die Russendisko überall. Von Amerika bis Singapur, in ganz Europa... Die Russendisko hat keine besondere Bedeutung, sie ist nur eine lustige Tanzveranstaltung mit lustiger, tanzbarer Musik und heißen Rhythmen. Ich mache das inzwischen seit sehr vielen Jahren und habe gelernt, wie man die richtige Atmosphäre schafft, damit Menschen Lust haben, einander kennenzulernen. Das ist der eigentliche Sinn der Sache. Die Musik ist absolut zweitrangig. Sinn der Russendisko ist die Atmosphäre. Ich glaube, dass ich mittlerweile auch ganz ohne Musik eine gute Russendisko machen kann.
B: Was erwarten Sie von Lissabon?
WK: Ich wünsche mir echte portugiesische Sonne, himmlisches Essen und spannende Gesellschaft.
B: Und als Letztes: Kann man ein Russe sein, ohne zu feiern, zu tanzen und ohne Wodka zu trinken?
WK: Nein, kein echter.
Das Interview wurde von Ines Thomas Almeida und Helena Araújo geführt.

Ines Thomas Almeida
Inês Thomas Almeida wurde in der Dominikanischen Republik geboren und wuchs in Portugal als zweisprachiger und dualer Staatsbürger auf. Sie zog nach Deutschland, um an der Hochschule für Musik und Theater Rostock Gesang zu studieren. Einige Jahre nach ihrer Niederlassung in Berlin gründete sie das Online-Magazin Berlinda (2010).

Helena Araújo
Helena Araújo (*1963), ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie studierte Wirtschaftswissenschaft an der Wirtschaftsfakultät der Universität Porto, Portugal. Seit 1989 lebt sie in Deutschland und seit 2007 in Berlin, wo sie als Übersetzerin und Fremdenführerin arbeitet. Autorin des Blogs “dois dedos de conversa” (*2004), und coAutorin des Buches “O Fio À Meada - Diálogos Imprevistos”.