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Interview mit Teolinda Gersão
Foto: Teolinda Gersão © Divulgação - teolindagersao.com
Teolinda Gersão wurde als "eine der glänzendsten Stimmen der zeitgenössischen portugiesischen Literatur" beschrieben. Geboren in Coimbra, studierte die Schriftstellerin Anglistik und Germanistik in Coimbra, Tübingen und Berlin. Sie arbeitete als Lektorin portugiesischer Sprache an der Technischen Universität Berlin und später als Universitätsprofessorin an der Neuen Universität Lissabon. Im Alter von 55 Jahren zog sie sich aus der Universität zurück um sich ausschließlich der Literatur widmen zu können. Sie hat mehrere Bände Kurzgeschichten, Novellen und Romane veröffentlicht.
In Portugal erhielt sie für ihr Werk zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den „Grand Prix des Romans" vom portugiesischen Schriftstellerverband für A Casa da Cabeça de Cavalo (1995) und den PEN Club Preis für Das Schweigen (1981, deutsche Übersetzung 1987). Neben Das Schweigen steht auch Landschaft mit Frau und Meer im Hintergrund ebenfalls in der Übersetzung von Karin von Schweder-Schreiner, den deutschen Lesern zur Verfügung. Ihr letztes Buch A Cidade de Ulisses (Die Stadt Odysseus) ist im März 2011 erschienen.
Teolinda Gersão ist eine sehr wachsame Schriftstellerin mit aufmerksamem Blick, die gerne durch die Stadt auf der Suche nach Dingen, Menschen und Geschichten wandelt. Seit über 30 Jahren schreibt sie in zahlreichen Heften ihre Notizen auf, die eine Art literarisches Tagebuch darstellen. Ihr Stil ist sorgfältig, elegant und intelligent. In einem Interview mit Berlinda erklärt Gersão ihre Beziehung zu der Stadt, in der sie ein Jahr lang lebte.
BERLINDA: Warum ging es nach Berlin?
TEOLINDA GERSÃO: Ich hatte mein Studium in Germanistik in Portugal abgeschlossen und gewann ein Stipendium des DAAD für postgraduale Studien in Deutschland. Ich war zwei Semester an der Universität Tübingen, bevor ich nach Berlin ging. Dort habe ich an der Freien Universität studiert, und als das Stipendium vorbei war unterrichtete ich Portugiesische Literatur an der Technischen Universität Berlin, als Lektorin. Es war eine deutsche Stelle, die nicht mit einer portugiesischen Institution verbunden war.
B: Wenn Sie an Berlin denken, woran denken Sie?
TG: An eine große Weltstadt mit einem erstaunlichen kulturellen Leben.
B: In Ihrer Erzählung Treffen in der S-Bahn machen Sie eine etwas negative Beschreibung von Berlin: im Westen die Angst vor den Ausländern und ein langweiliges und zu viel geregeltes Leben, im Osten Armut und Unterdrückung. Doch später ist die Mauer gefallen und es hat sich seitdem vieles verändert. Waren Sie schon nach der Wende in Berlin? Haben Sie immer noch das gleiche Bild von der Stadt?
TG: In dieser Geschichte sehe ich auch die andere Seite, die Schattenseite. In jener Zeit war die Stadt in zwei Hälften geteilt, es gab Westen und Osten, durch die Mauer getrennt. Auf der Ostseite gab es Unterdrückung und wirtschaftliche und kulturelle Armut - ein Merkmal von Diktaturen. Ich kam selber aus der Diktatur Salazars in Portugal, und wusste aus Erfahrung, wie erstickend und schmerzhaft Diktaturen sind. Aber der Westen (wie im allgemeinen ganz Westdeutschland) hatte andere Dornen, es war eine egozentrische und geschlossene Gesellschaft, viel mehr "menschenschüchtern" als "menschenfreundlich". Ich erinnere mich noch, als es Jahre später um die Schwierigkeiten der West-Ost Integration ging, wie die deutsche Presse Portugal als positives Vorbild bezeichnet hat, weil es dem kleinen und armen Land gelungen ist, mehr als eine halbe Million Menschen zu integrieren, die aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien nach [der Nelkenrevolution] 1974 nach Portugal zurückkehrten. Viele Jahre nach der Wende bin ich wieder nach Berlin gereist und habe eine Tour durch Deutschland gemacht. Das sind eine Stadt und ein Land, wohin ich immer gerne wiederkomme.
B: Haben Sie Freunde in Berlin? War es schwierig, Freundschaften zu schließen?
TG: Ich war sehr privilegiert, da ich mich in einem Milieu von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern bewegte. Dort war natürlich alles anders. Ich habe viele Freundschaften ohne Probleme gemacht, die viele Jahre dauerten, einige bis heute noch, trotz der geographischen Distanz. Die Deutschen können die besten Freunde der Welt sein.
B: Haben Sie Erfahrungen in Berlin gemacht, die Sie besonders prägten?
TG: Ich hatte sehr gute Erfahrungen. Ich traf zum Beispiel Walter Höllerer, der nicht nur ein Dichter und Schriftsteller, sondern auch ein außergewöhnlicher Kulturverbreiter und einer der Gründer der Gruppe 47 war. Ich erinnere mich an die Sitzungen im Literarischen Colloquium am Wannsee und an die vielen Autoren, die mir dort begegnet sind, wie Günther Grass oder der Franzose Michel Butor.
B: Hatten Sie in Berlin ein Bezirk, eine Straße oder einen Ort besonders gerne? Warum?
TG: Ich erinnere mich vor allem an die ruhigen Plätze am Fluss und an die Seen. Und an das Stadtzentrum mit seinem unaufhörlichen Leben.
B: Was hat Ihnen in Berlin am meisten und am wenigsten gefallen? Warum?
TG: Ich mag besonders das kulturelle und künstlerische Leben. Ich erinnere mich beispielsweise an die Ausstellungen, Museen und Galerien, an Filme wie Das Messer im Wasser von Polanski, oder an die Inszenierung von As you like it („Was ihr wollt") von Shakespeare, oder an Karajan in der Philharmonie. Und ich erinnere mich, wie ich den Sonntag gehasst habe. Ab 17 oder 18 Uhr abends gab es kaum jemanden auf der Straße. Berlin kam mir wie eine Geisterstadt vor.
B: Würden Sie noch ein Mal ein Jahr in Berlin verbringen, wenn Sie die Chance hätten?
TG: Im Moment würde ich für ein Jahr nirgendwo hingehen. Es würde das Schreiben schwieriger machen, wäre destabilisierend. Ich habe so viele Projekte, die ich verwirklichen will, dass ich mir nur wünsche, ruhig in meinem Büro bleiben zu können. Ohne Unterbrechungen ...
B: In Ihrem letzten Buch A Cidade de Ulisses (Die Stadt Odysseus) erzählen Sie viele Geschichten über Lissabon. Interessieren Sie sich auch für Geschichten über Berlin oder über andere Städte? Könnten Sie sich vorstellen, mit diesem Grad an Intimität über Berlin zu schreiben?
TG: Mit dem gleichen Grad an Intimität schrieb ich über Lourenco Marques, jetzt Maputo [die Hauptstadt Mosambiks]. Der Roman heißt A Árvore das Palavras [Der Baum der Wörter], wofür es eine englische Übersetzung gibt, The Word Tree. Und auch über meine Stadt, Lissabon. Ich habe aber viele Notizen über Berlin gemacht und denke, ich werde noch über die Stadt schreiben, allerdings in einer sehr viel intimeren Art als in meiner Erzählung Treffen in der S-Bahn. Die Stadt als Ort des Lebens und der Menschen.
B: Noch in „Die Stadt Odysseus“, geht eine der Hauptfiguren wegen der Karriere als Künstler nach Berlin und New York, eine andere nach Schweden. Ist Berlin ist ein guter Ort für die Portugiesen, um sich dort beruflich zu verwirklichen?
TG: Berlin ist eine Stadt, die sehr viel anzubieten hat, vor allem auf der wissenschaftlichen und kulturellen Ebene, und kann für Künstler etwas wie eine Quelle der Inspiration und Energie werden. Aber obwohl der Ort, den man wählt, sämtliche Erfahrungen, Begegnungen und das Lernen potenzieren kann, hängt nicht unsere Leistung und Verwirklichung immer in erster Linie von uns selber, mehr als von einer Stadt oder einem Ort? ...
Das Interview wurde von Ines Thomas Almeida geführt.

Ines Thomas Almeida
Inês Thomas Almeida wurde in der Dominikanischen Republik geboren und wuchs in Portugal als zweisprachiger und dualer Staatsbürger auf. Sie zog nach Deutschland, um an der Hochschule für Musik und Theater Rostock Gesang zu studieren. Einige Jahre nach ihrer Niederlassung in Berlin gründete sie das Online-Magazin Berlinda (2010).