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MAGAZIN

Stolpersteine in meinen Viertel

Maria-Grácia Guimarães

Fotos: © JF/Helena Araújo

Die Stolpersteine sind in Berlin ein schon allseits bekanntes Phänomen. Aber wer setzt sie in die Gehsteige ein, wer entscheidet, welche Namen sie tragen und welche Personen für immer vergessen bleiben, im Massengrab, in der flüchtigen Anonymität? In meinem Viertel, in Charlottenburg, haben sich die Bewohner einer Straße zusammengetan, um an alle Nachbarn zu erinnern, die vor 70 Jahren aus ihren Häusern gerissen und getötet wurden. Ein Ehepaar übernahm die Initiative, eröffnete ein Bankkonto und hing Plakate auf, wodurch genug Geld für die 35 Stolpersteine, die sie brauchten, zusammenkam. Die Reaktion der Leute war durchweg positiv, und nach zwei Monaten konnte die Bestellung bei einem Künstler aufgegeben werden. Ein Rabbiner, ein Musiker, ein Dichter und die Steinmetze erwiesen den Verewigten gemeinsam mit den Nachbarn die Ehre. Gedichte von Paul Celan wurden vorgetragen, Klezmer-Musik wurde gespielt, die Namen der Opfer wurden verlesen, das Heiligungsgebet Kaddisch wurde angestimmt. 

Der Rabbiner hielt eine bewegende Rede. Er bat die Menschen, näher zueinander zu rücken, und zitierte einen Satz von Amos Oz: „Was sich ändert, ist die Vergangenheit“. Wer hätte gedacht, dass wir heute Seite an Seite stehen, Juden und Nicht-Juden, geeint durch das Leid derer, die sich als Deutsche sahen, die Deutsche waren?

Es sind nicht die großen Gesten der Bundesregierung, die zählen, sagte der Rabbiner, sondern die kleinen Gesten der Leute, die zeigen, wie präsent das Leid im Bewusstsein noch ist und wie künftige Generationen die Vergangenheit auch in Zukunft weiter verändern werden.

 

Er verlas ein Gedicht von Zelda Schneersohn Mishkovsky:

 

(…)

Jeder Mensch hat einen Namen

Den ihm die Sternbilder gaben

Und seine Nachbarn

(...)

 

 

Natürlich kann man sich fragen, ob es 70 Jahre danach immer noch Sinn hat, an diese Vergangenheit zu erinnern. In diesem Punkt war der Rabbiner eindeutig: Wir erinnern nicht daran, wir verändern sie. Jeder Mensch hat einen Namen, jeder Mensch verdient es, seinen Namen von den Nachbarn zurückzuerhalten. Von denjenigen, die mit ihren eigenen Händen nach der Geschichte greifen.   

 

Text: Helena Araújo

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Helena Araújo

Helena Araújo (*1963), ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie studierte Wirtschaftswissenschaft an der Wirtschaftsfakultät der Universität Porto, Portugal. Seit 1989 lebt sie in Deutschland und seit 2007 in Berlin, wo sie als Übersetzerin und Fremdenführerin arbeitet. Autorin des Blogs “dois dedos de conversa” (*2004), und coAutorin des Buches “O Fio À Meada - Diálogos Imprevistos”.

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